Tod

Einschub – Vom Sterben.

Wie schon letztes Jahr um diese Zeit, ein Einschub aus aktuellem Anlass. Wer gerade nicht über Krankheit, Sterben und Tod lesen mag, der möge an dieser Stelle aufhören.

 


 

Mein Freund Marc ist tot.

Nach seiner Diagnose 2018 ging es erst bergab und ab Februar 2019 wundersamerweise bergauf. Alle zwei bis drei Wochen haben wir uns getroffen, zur Kuchentherapie. Ich brachte einen Kuchen, wir aßen und redeten. Über die Krankheit, den Ausblick, die Arbeit, die Sorgen, die Freuden. Die Diskussionen wurden zunehmend theoretischer und spiritueller, was ich begrüßte.

Im Frühling war Marc stark und glücklich. Motorisch war er nicht komplett wiederhergestellt, aber es war gut genug – er konnte radfahren, gehen und sogar klettern.

Den Sommer nutzte er mit seiner Partnerin und ihren vier kleinen Kindern. Sie reisten ein paar Monate durchs Land, besuchten Freunde und Familie, schmiedeten Pläne. Marc wollte nicht wieder zurück in seinen alten Beruf. Irgendetwas hat wohl dazu beigetragen, dass er so krank geworden ist. Und das möchte er nicht wieder in sein Leben lassen. Gerne würde er auf seine Kinder aufpassen während seine Partnerin wieder mehr arbeitet.

Ein paar Tage bevor es wieder nach Hause ging von der großen Reise, kamen die Schmerzen zurück.

Heftig. Tumore drücken auf die Nervenbahnen, die aus der Wirbelsäule hervortreten. Tumore drücken auf das Rückenmark und paralysieren ihn.

Marcs Partnerin ist Krankenschwester und pflegt ihn zu Hause. Doch das funktioniert nicht richtig, denn die vier Kinder sowie der Haushalt brauchen ihre Aufmerksamkeit und Marc braucht mittlerweile Betreuung rund um die Uhr.

Als entscheidet sich Marc, ins Krankenhaus zu gehen.
Im Krankenhaus werden die Schmerzen groesser.
Die Laehmungen nehmen zu.

Erst sitzt Marc im Rollstuhl.
Dann kommen Taubheitsgefuehle in den Haenden hinzu.
Die schon unertraeglichen Schmerzen ueberwaeltigen ihn komplett und er bekommt Morphium, Methadon, Lyrica.
Trotzdem hilft nichts.

Als ich Marc auf einer Palliativstation in einem neuen Gesundheitszentrum besuche, kann er die Haende nicht mehr bewegen, nur noch die Arma. Und Atmen geht auch nur noch flach.

Trotzdem lachen wir viel, das haben wir immer schon gemacht. Und essen Kuchen. Ich soll bald wieder kommen. Natuerlich mache ich das!

Ich besuche Marc zu Hause. Ein Transfer von Spezialbett zu Spezialrollstuhl zu Spezialbett dauert lange und ist sehr schmerzhaft. Doch zu Hause, umgeben von seinem Bruder mit Familie, seiner Partnerin mit vier Kindern und seiner Mutter, da geht es ihm ganz gut. Niemand meidet oder bemitleidet ihn hier, das Haus ist voller Leben und niemand spricht nur mit gedaempfter Stimme.

Hier teilt er mir mit, dass er sich entschieden hat zu sterben.

In Kanada ist Sterbehilfe erlaubt. Und Marc findet nicht, dass er noch unbedingt darauf warten muss, langsam zu ersticken. Jedenfalls soll ihm seine Familie nicht beim Ersticken zusehen muessen. Es ist Dienstag. Freitag Nachmittag waere doch ein guter Tag zum Sterben. So um 5. Ob er die Infusion oder den toedlichen Schluck nehmen sollte? Wenn, dann wuerde er gern selbst ausfuehrend sein, also das Getraenk. Aber damit kann es wohl ein paar Stunden dauern, bis der Tod eintritt. Ob seine Familie und seine Freunde so lange warten wollen?

Ausserdem soll das Getraenk scheusslich schmecken. Und er liebt doch gutes Essen… Dann wuerde er lieber mit einem guten Geschmack im Mund sterben.

Technisch-neutral diskutieren wir die Umstaende seines geplanten Todes. Nur die oertliche Sterbehilfe-Aerztin konnte noch nicht erreicht werden. Hoffentlich hat die Freitag um 5 noch nichts vor.

Ich fahre wieder auf die Arbeit. Der Tag geht langsam rum, wie die restlichen Arbeitstage dieser Woche. Tagsueber klopft mein Herz bis zum Hals und ich kann nicht glauben, wie surreal alles ist.
Nach der Arbeit fahre ich auf den Parkplatz vor Walmart und heule in meinem Kombi. Hier stoert es niemanden. Im Anschluss gehe ich derangiert bei Walmart einkaufen. Auch hier fuehle ich mich als Teil der Gruppe.

Nur Freitag, Freitag fahre ich von der Arbeit aus zum Gesundheitszentrum. Da gibt es einen schoenen Indianer-Heilungsraum. Und da will Marc sterben.

Alle Arbeitskollegen, die mit Marc jahrzehntelang zusammen gearbeitet haben, wollen nicht dabei sein. Sie wissen nicht, ob sie das packen.
Komisch, das weiss ich auch nicht. Aber die Frage hab ich mir nie gestellt, ob ich das packen werde. Ich weiss, dass mein lieber Freund Marc stirbt und sich dabei gute Gesellschaft wuenscht. Also bin ich da. Der Rest interessiert mich herzlich wenig.

Freitag morgens faellt mir auf, dass es kein Bild gibt von Marc und mir. Ich frage seinen langjaehrigen Bueronachbarn, ob es zu pietaetslos ist, ihm auf dem buchstaeblichen Sterbebett nach einem Selfie zu fragen.
„Ich glaube, ihm wuerde die Merkwuerdigkeit gefallen.“
„Aha! Das ist also der Grund, warum er gut mit mir befreundet ist!“

Im Heilungsraum bin ich die Erste.

Es ist warm, hell und ein kleiner elektrischer Wasserfall plaetschert ueber eine Schieferplatte an der Wand. Hier werde ich ganz ruhig und stark. Meiner jetzigen und Marcs ehemaliger Mitarbeiterin schicke ich ein paar Impressionen per MMS. Sie wohnt in Quebec und kann nicht dabei sein.

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Der Raum ist rund man fuehlt sich als sei man in einem hoelzernen, riesigen Tipi. In der Mitte thront eine riesige Rauchabzugshaube. Das Dach um die Abzugshaube besteht aus Fenstern und einer strahlenfoermigen Holztraegerkonstruktion.

Irgendwann kommt auch Marcs Bruder in den Raum. Er baut seinen Computer auf mit Lautsprechern. Falls Marc seine Lieblingslieder hoeren moechte. Und Fruechte. Falls Marc mit einem suessen Geschmack im Mund sterben moechte.

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Alles steht bereit. Lautsprecher, eine Schale Himbeeren, eine Mandarine.

Die Sterbeaerztin kommt hinein und spricht ein wenig mit Marcs Bruder und mir. Und eine andere Angestellte klaert uns ueber den Gebrauch der Feuerstelle samt Abzugshaube auf.
Schliesslich entzuendet sie das Feuer und verlaesst den Raum.

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Ein echtes Holzfeuer brennt in der Mitte des Raumes. Das Mosaik auf dem Boden symbolisiert die vier Himmelsrichtungen der Indianer. Von Norden im Uhrzeigersinn: Weiss, Gelb, Rot, Schwarz.

Und der Raum fuellt sich auch mit Familie und Freunden, lieben Nachbarn und vielen Kindern.

Das Licht wird gedimmt. Da hoere ich Marcs Tochter schon von Weitem laut weinen. Marc faehrt auf seinem elektrischen Rollstuhl in den runden Raum, gefolgt von Partnerin und Kindern.

Er faehrt eine Runde im Uhrzeigersinn. Eine Runde voller letzter Umarmungen, Kuesse, Worte und guter Wuensche.

Ich sage einfach „Danke fuer alles!“ Marc findet, dass das eine gute Zusammenfassung ist, aber auch er mir fuer alles dankt.
Dann frage ich ob es zu spaet fuer ein gemeinsames Foto ist, aber anscheinend habe ich Glueck.

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Ein erstes und letztes Bild von Marc und mir.

Wir verabschieden uns mit „Alles Gute und man sieht sich!“.

Nachdem die Abschiedsrunde vollendet ist, spricht Marc mit klarer, ruhiger Stimme auf Franzoesisch. Ein paar Worte verstehe ich, aber den Zusammenhang nicht. Zum Glueck sagt er noch etwas auf Englisch. Was fuer ein tolles Leben er hatte, und dass er bis in den Tod von so vielen Menschen mit so viel Liebe begleitet wird. Dass er gluecklich ist und glaubt, dass der Tod nicht das Ende ist.

Dann spricht Marc noch einmal auf Franzoesisch. Dieses Mal folgt kein Englischer Teil. Stattdessen faengt die Frau neben mir an, leise Gitarre zu spielen und Mantras zu singen (oh Shanti Shanti aveo, oder so aehnlich). Der Gesang hilft mir sehr, positiv und stark zu bleiben. Marc wird von seinen Kindern, seiner Partnerin und seinem Bruder beschmust und alle singen.

Irgendwann hoert die Musik auf und Marcs Partnerin spricht. Alle, die nicht dabei sein wollen, wenn Marc stirbt, koennen jetzt den Raum verlassen. Etliche Kinder und ein paar Erwachsene gehen zum Spielen in den Nebenraum. Aber fuenf Kinder bleiben, davon die beiden aelteren Kinder von Marc.

Die Mantras werden wieder gesungen. Anscheinend wird auf Obst sowie Musik vom Laptop verzichtet, denn die Aerztin ist schon im Raum, zusammen mit ca. fuenf Pflegern. Die Aerztin hat einen kleinen Eimer mit ca.  sechs Spritzen bei sich. In Marcs Hand befindet sich schon die Kanuele.

Ich kann nicht sehen, wann die Aerztin spritzt, sie hockt mit dem Ruecken zu mir gewandt. Aber ich sehe, dass Marc gaehnt. Und kurze Zeit spaeter muessen seine Lieben schon seinen Kopf stuetzen, damit er nicht auf seine Brust faellt.

Irgendwann erlaube ich auch mir, zu weinen.

Marc ist tot.

Ich umarme seine Partnerin und frage sie, ob sie glaubt, dass Marc noch irgendwo im Raum ist. Aber sie meint, dass er sofort durch die Fenster in der Decke nach oben entwichen ist. Er war so sehr bereit zu sterben, da war kein Grund fuer ihn zu bleiben.

Ein bisschen bleibe ich noch bei Marcs totem Koerper und streichle seine Knie. Doch er ist wirklich sehr tot. Also ziehe ich mich in mein Auto zurueck.

Dieses Mal weine ich auf dem Parkplatz des Gesundheitszentrums. Dann informiere ich per SMS interessierte Arbeitskollegen. Und ich rufe Tyrel an, um ihm zu sagen, dass ich mich trotz allem fahrtuechtig fuehle. Ob er etwas vom Supermarkt moechte (Ja, Aepfel!).

Zu den Aepfeln gesellen sich Tiefkuehlpizzas und Ben und Jerry’s Eis. Heute gebe ich allen Geluesten nach.

Und trotz der Trauer bin ich so froh und dankbar. Dass ich Marc begleiten durfte durch all das Hoffen und Bangen bis zum Ende. Dass er so viel seiner kostbaren Zeit mit mir geteilt hat. Dass ich durch sein Leiden und seinen Tod neue Seiten an mir und meinem Leben entdecken konnte.

Ganz einfach: Danke fuer alles! 🙂

Flusstour 2019 – Tag 1 (Achtung, Bilder von toten Tieren!)

Der Wecker klingelt frueh.

Gestern noch mussten wir eine Einladung zum Lagerfeuer absagen weil wir bis Mitternacht mit Packen beschaeftigt waren. Den kleinen verbleibenden Rest wollten wir am Morgen packen; doch das dauert laenger als gedacht. Ein Blick auf die Uhr bringt Tyrel in Wallung – wir kommen zu spaet! Zum Glueck haben wir beide die gleiche Einstellung, es ist uns sehr unangenehm, wenn Leute auf uns warten muessen. Doch bevor mich Tyrel um ein kleines Fruehstueck bringt und saemtliche Verkehrsregeln bricht, sende ich einfach eine Nachricht, dass wir uns eine halbe Stunde verspaeten werden. Wir packen Huendin Arma ein und fahren los.

An der Tankstelle versorge ich mich mit Trockenfleisch und einem Keks. Mampfend betrachte ich waehrend der Fahrt die niedrig haengende Wolkendecke. Jedenfalls soweit es mir moeglich ist; mein Nacken tut immer noch reichlich weg und zwingt meinen Kopf in eine demuetige, zum Boden geneigte Haltung. Arma schmatzt laut und sabbert auf mich. Autofahren ist nicht ihrs.

Am Treffpunkt laden wir unser mitgebrachtes Gepaeck in den Truck eines Freundes, der uns zum Startpunkt bringen wird. Die Boote hat unser Freund zum Glueck schon gestern abgeholt – so konnten wir mit unserem Kombi die restliche Ausruestung fuer die Exkursion zum Treffpunkt transportieren.

Zur Einstiegsstelle in den Teslin River fahren wir im Auto mit unserem Freund Joe. Er beginnt zeitgleich mit uns eine Flusstour. Auf der Fahrt stelle ich alle wichtigen Fragen („Werden wir zusammen lagern?“ „Vielleicht.“ „Fahren wir zusammen zurueck?“ „Wird sich zeigen.“). Am Ziel angekommen, verbrate ich mein mitgebrachtes Geld im Motel. Ich fuelle Tyrels Thermoskanne mit Kaffee und meine mit Tee. Die dichter werdende Wolkendecke droht damit, dass wir uns spaeter nach ein wenig Waerme sehnen koennten. Als Mittagssnack wollte ich eigentlich Haehnchenfluegel mitbringen, aber die sind aus. Also gibt es sausage rolls, Bratwurstbraet im Blaetterteig. Von meinen letzten Dollars kaufe ich mir einen riesigen, bestimmt 20 cm Durchmesser Keks. Ich moechte weniger Zucker essen. Nicht aus Gewichtsgruenden, aber ich habe das Gefuehl mein Koerper rastet aus wenn ich Zucker zu mir nehme und manchmal fuehle ich mich direkt abhaengig. Und ich mag nicht gern abhaengig sein. Mit dem Weniger Zucker Essen fange ich aus Ermangelung an Versuchungen dann wahrscheinlich auf dem Fluss an. Nachdem ich den Moerderkeks gefuttert habe.

Unten am Fluss beginnt mittlerweile schon das Ausladen, Sortieren und Boote zusammenbauen. Zusammenbauen? Genau – wir muessen uns ja jedes Jahr steigern. 2017 ging es mit dem Kanu raus, 2018 mit unserem Aluboot… und 2019 einfach mit beiden Booten zusammengezurrt!

Eifrig helfe ich mit und fummle herum, bis ich die beste Befestigung zwischen Boot, Kantholz und Zurrgurt gefunden habe. Dabei beuge ich mich vorwaerts und Wasser laeuft in meinen rechten Gummistiefel.

Wow. Und das, bevor wir ueberhaupt losgefahren sind.

Ich sehe keinen Sinn darin, mein Missgeschick zu verkuenden. Die anderen wuerden nur wollen, dass ich meinen Innenstiefel und meine Socken wechsle. Und ich will einfach nur losfahren. Wortlos gehe ich ums Eck und wringe Innenstiefel und Socken aus. Als ich zurueckkomme, sind wir schon fast ablegebereit.

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Unser diesjaehriges Gefaehrt: Zwei Boote voller Ausruestung, verbunden mit Holz und Gurten.

Joe ist bereits vorgefahren und ausser Sicht, als wir ablegen. Unsere Freunde, die uns abgesetzt haben, warten am Ufer und winken. Warten daher um zu sehen, ob der Motor auch anspringt. Nach dem Disaster des letzten Jahres als wir Joes Abschleppdienst in Anspruch nehmen mussten, haben wir uns einen neuen Aussenbordmotor gekauft.

Der Motor ist sich der Verantwortung bewusst, die sein stolzer Preis mit sich brachte und springt sofort an. Waehrend er vor sich hinblubbert und warm wird, driften wir langsam flussabwaerts. Arma reckt den Hals zum Ufer und ueberlegt, ob sich ein Sprung noch lohnen wuerde. Dann legt Tyrel den Vorwaertsgang ein und wir beginnen die Reise.

Von Weitem sehe ich, wie die Trucks unserer Freunde abziehen. Dann befinden wir uns in der ersten Flussbiegung und sind ploetzlich einige Tagesreisen von der naechsten Ortschaft entfernt.

Der ganze Wahnsinn des Sommers rollt von meinen Schultern und gleitet lautlos ins kalte Wasser, das mich umgibt. Ich fuehle mich erleichtert und muede. Erleichtert, dass es diese Wildnis noch gibt. Diese alte Wasserstrasse, die uns erlaubt uns der Wildnis anzunaehern. Die vielen Seen und Baeche, die noch genuegend kristallklares Wasser ins Flussbett speisen. Die Abgeschiedenheit, die uns zwingt, im Hier und Jetzt zu sein, denken und handeln.

Solange ich spuere, dass es dies alles noch gibt, kann eigentlich gar nichts Schlimmes geschehen, denke ich mir und versuche eine angenehmere Position fuer meinen schmerzenden Nacken zu finden. Ich bin dieses Jahr wieder fuer die Navigation zustaendig und blaettere in der Flusskarte herum um mich zu orientieren. Ab und an verlaesst Arma ihren zugewiesenen Platz hinter mir und leistet mir Gesellschaft.

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Schaeferhundmixdame Arma und ich halten Ausschau im Boot.

Langsam geht es voran. Mit nur einem Boot waren wir auf unseren Probefahrten bedeutend schneller. Joe faehrt mit seinem schnittigen Frachtkanu uns flussaufwaerts entgegen. Wir verabreden uns zum gemeinsamen Lagern heute Abend und Joe zischt wieder flussabwaerts.

Regen setzt ein.

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Arma mach Platz auf dem Sperrholz zwischen den Booten.

Nach einiger Zeit sind wir reichlich durchnaesst, auch durch unsere Regenkleidung. Am verabredeten Lagerplatz sehen wir Joes Boot schon von Weitem. Zwischen den Bueschen steigt Rauch auf. Eine Plane ist fuer uns gespannt, die den Boden trocken haelt. Paradiesische Zustaende!

Jetzt bin ich vor allem hungrig und müde. Tyrel schlaegt unser erstes Lager unter der bereits gespannten Plane auf, ich mache mich daran, das Abendessen vorzubereiten. Die Butter fehlt. Ich grabe im Boot nach Butter.

Tyrel folgt mir zum Boot, leise aber bestimmt.

Im Fluesterton ruft er mir zu:
„luisa! luisa!!
da kommt ein grizzly auf uns zu – 200 meter!
hol dein gewehr!“

Tyrels Armbewegungen folgend schaue ich nach links und kneife die Augen zusammen. Tatsaechlich, ein Baer trottet auf uns zu.

„HOL DEIN GEWEHR!!!“

Ich lasse die Butter Butter sein, gehe schnellen Schrittes zu unserem Lager und greife mein Gewehr. Auch dieses Jahr vertraue ich auf meine Savage Axis II bolt action 30-06, die uns schon einige Male Jagdglueck beschert hat.

Waehrend ich das Magazin hineinfummele, sehe ich dass Joe schon sein Elefantengewehr gezueckt hat. Wir schleichen herunter zum Fluss, denn der Baer trottet auf der grasbewachsenen Boeschung entlang. Doch durch unsere Anwesenheit laesst er sich nicht stoeren und kommt langsam naeher. Ich muss dreimal laden, bis ich tatsaechlich Munition in die Patronenkammer geladen habe. Komisch.

„Komm, wir gehen in Deckung und lassen ihn naeher rankommen.“, raet Joe.
Und:
„Ich lasse dir den ersten Schuss.“

Joe kniet zwischen zwei Bueschen und zielt. Ich suche mir mein eigenes Gebuesch und lege mich auf den Bauch, in die prone position. Die gelb eingefaerbten Schutzkappen von meinem Sucher werfe ich einfach neben mich und ziele.

Und ziele.

Der Grizzly kommt langsam naeher. Jeder Schritt erschuettert die hellen Spitzen seines Fells, was seine Erscheinung noch dramatischer macht.
Er wird langsamer.
Noch ca. 100 Meter.

Er schlendert in Richtung Dickicht.
Wird er uns vom Busch aus einen Besuch abstatten wollen?

Er hat den Busch fast erreicht.

Ich schiesse.

 

Alle Geraeusche sind dumpf und treten nur langsam hinter meinem Tinnitus hervor.

Schnell lade ich nach und eile zusammen mit Joe zum Ufer, in Richtung Baer.

„Ich hab ihn….. ich hab ihn.“, sagt Joe und zielt im Knien auf den Baeren, der querschnittsgelaehmt versucht, auf seinen Vorderpfoten zu entkommen.

Emotionen verspuere ich gerade keine; nur die Verantwortung, das Baerenleid so schnell wie moeglich zu beenden.

Nach zwei weiteren Schuessen steigt Dampf aus einem Loch im Brustkorb des Baeren. Er liegt reglos im Gras.

Wir geben ihm ein paar Minuten und naehern uns – Waffen geladen und gezueckt. Joe piekst ihm mit einem Stock ins Auge. Der Lidschlussreflex ist einer der letzten Lebenszeichen.

Der Baer ist tot.

Statt Trauer und dem grossen Warum, was ich sonst haeufig nach der Jagd empfinde, bin ich erfuellt mit einer tiefen Dankbarkeit. Ein so umfassendes Gefuehl, dass es durch meine Fussohlen in den Boden auszustrahlen scheint und mich mit dem Leben verankert, erdet, traegt.

Ich weiss nicht, wie ich diese Dankbarkeit genuegend ausdruecken kann. Zum Glueck bin ich vorbereitet und hole einen Beutel Tabak aus dem Lager. Ich streue eine grosse Hand voller Tabak um den Baeren und sage aus vollem Herzen: „Danke!“
Danke, du starker, maechtiger Baer, dass du dich uns gegeben hast!

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Toter Baer und ich.

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Die Abschussstelle: Auf einer Uferwiese vor wolkenverhangenen Bergen.

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Ich hebe den Kopf des Baeren an.

Als ich das Geschlecht des Baeren bestimmen moechte, kratze ich erst meinen Kopf. Weder Vulva noch Hodensack sind zu erkennen. Aber die buschige Penisspitze sehe ich. Passt aber zusammen mit der geringen Koerpergroesse; dieser Baer ist ein junger, maennlicher Baer. Oft gehen Konflikte oft von dieser Gruppe aus. Sie sind sehr selbstbewusst, aber noch nicht erfahren genug um Situationen richtig einschaetzen zu koennen.

Ich frage Joe, wer von uns beiden seine Abschussgenehmigung (tag) an den Baeren heftet. Immerhin haben wir ihn zusammen erlegt.
„Es ist dein Baer.“, bestimmt Joe.
„Ok…“, ich entwerte mein tag und befestige klemme es dem Baeren zwischen die Zaehne.

Langsam merke ich meinen Hunger wieder. Wir haben einige Stunden Arbeit vor uns, da brauchen wir eine Staerkung. Zurueck am Boot finde ich schnell die Butter und bereite eine Pfanne zu aus gefrorenen Bratkartoffeln, Wuerstchen und Gemuese. Joe, Tyrel und Arma bauen einen Wetterschutz fuer den Baeren, es regnet immer noch. Arma zeigt keine Angst vor dem toten Baeren, wie es fuer Hunde ueblich ist. Eifrig leckt sie Baerenblut und wird ausgeschimpft, wenn sie ins Baerenfell beisst. Tyrel hat uebrigens auf die Schnelle keine Leine gefunden, als der Grizzly auftauchte und sich daher zusammen mit Arma im Hintergrund gehalten.

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Zwei abgespannte Planen sorgen fuer Regenschutz beim Zerteilen des Baers.

Als wir ein paar Happen essen, fragt mich Tyrel, ob und wieviel Hilfe ich haben moechte, den Baeren zu verarbeiten. Auf jeden Fall moechte ich alleine anfangen und wuerde Tyrel und Joe Bescheid sagen, wenn ich Hilfe haben moechte.

Also steige ich nach kurzem Essen alleine mit Gewehr und Messer zum Baerenzelt hinunter. Zuerst muss der Baer auf den Ruecken gedreht werden, damit ich mit dem Haeuten beginnen kann. Jede Bewegung des Oberkoerper laesst Luft und Blut in der Baerenlunge rasseln und ich spuere die Vibrationen, wenn der tote Baer unter mir knurrt und stoehnt.

Meine Haende sind blutverschmiert, ich bin klitschnass und muede und sehe daher davon ab, Bilder zu machen.

Den ersten Schnitt setze ich direkt unterhalb des Brustbeines und ziehe eine moeglichst gerade Linie bis zum Anus. Auf dem Weg finde ich auch den Penis und den Hodensack. Die Hoden selbst waren noch nicht hineingewandert. Ich schneide um den Anus herum und versuche eine geeignete Linie an der Innenseite der Hinterlaeufe entlang zu finden. Bis zum Knie und zum Knoechelgelenk. Dann gehe ich wieder zum Brustbein und schneide gerade nach oben, bis zu den oberen Halswirbeln. Wieder suche ich eine geeignete Stelle, um die Innenseiten der Vorderlaeufe einzuschneiden.

Da meldet sich mein Nacken heftigst.

Stimmt, der tat mir ja weh!
Wie hab ich es eigentlich geschafft, mich vorhin rambomaessig auf den Boden zu werfen ohne einen Hauch von Unwohlsein?!

Joe, Arma und Tyrel kommen und begutachten meinen Fortschritt. Die Nacht rueckt immer naeher und dankbar nehme ich Hilfe an. Zu dritt haeuten wir den Baeren und trennen Vorder- und Hinterlaeufe vom Rumpf ab. Dann erst weiden wir aus. Erstens kann das waermste Fleisch (um die Hueftpfannen herum) so schon auskuehlen. Und zweitens ist das meiste Fleisch schon aus dem Weg, falls beim Ausweiden z.B. Darminhalt oder Galle auslaeuft.

Mittlerweile bin ich wirklich muede, habe verdammt starke Nackenschmerzen und bemerke, dass mein rechter Fuss immernoch nass ist und bei jedem Schritt im Stiefel schmatzt und schwappt. Joe und Tyrel erklaeren und halten den Baeren geduldig, sodass ich trotzdem noch meine Arbeit beenden kann. Nur als wir zu dem Schritt kommen, das Schambein mit der Axt zu durchtrennen, bitte ich Tyrel, mir auszuhelfen. Einen Axtunfall muss ich durch meinen Zustand nicht hinaufbeschwoeren.

Schliesslich haben wir fuenf Beutel Fleisch und einen Pelz mit Schaedel und Pfoten. Schoene Krallen hat der Baer. Joe beaeugt die Krallen und bemerkt: „Vielleicht schuldest du mir eine der Krallen…“ „Klar!“, stimme ich zu. Die Haelfte des Fleisches bekommt er auch. Was immer wir auf diesem Trip zusammen erjagen, wollen wir teilen.

In den Eingeweiden greift Joe nach der Leber und der Blase, die an der Leber haengt. „Das ist die Gallenblase. In der chinesischen Medizin werden ihr sehr heilende Kraefte zugeschrieben. Die Chinesen in Vancouver wuerden sie dir fuer viel Geld aus den Haenden reissen. Getrocknet zermahlen sie die Galle zu Pulver und nehmen das in Kapselform ein. Aber verkaufen darfst du sie nicht. Du kannst dir ueberlegen, was du damit machst.“

Nachdem ich mich und meine Regenkleidung notduerftig im kalten Flusswasser gewaschen habe, bringe ich mein mittlerweile versandetes Gewehr und die Messer zum Lagerplatz. Waehrend ich die ersten Schnitte gemacht habe, hat Tyrel schon unsere Feldbetten und Schlafsaecke bettfertig bereitet. Was fuer ein himmlischer Anblick!

Doch zunaechst muss ich noch einmal zum Boot gehen. Endlich muss mein rechter Fuss trockengelegt werden, bevor ich noch trench foot (Schuetzengrabenfuss / Fussbrand) bekomme. Am Boot treffe ich einen fassungslosen Tyrel. Er war damit beschaeftigt, den Baerenpelz auszuwaschen und so auf das Boot zu drapieren, dass der Regen die Hautseite weiter auswaescht. Dann hat er sich gefragt wo Arma ist, die vor ca. zwei Minuten noch um ihn herum gelaufen ist. Arma, bzw. ein leuchtendes Augenpaar in schwarzer Nacht kam von der Abschussstelle auf ihn zugelaufen. Und mysterioeserweise hatte Arma einen vollen Bauch, obwohl es noch kein Abendbrot fuer sie gab…

Tyrel ging also mit ihr zurueck um zu schauen, was sie gefressen hat. Zum Glueck hat sie nicht versucht, sich durch die Fleischsaecke zu nagen! Aber ein riesiges Stueck Grizzlyleber fehlt. Oh, Arma…

Auf das gewoehnliche Abendessen verzichtet Arma. Ich wuerde ja den Kopf schuetteln, aber ich kann meinen Nacken nicht bewegen und bin nicht sicher, wie ich in den Schlafsack kriechen kann. Irgendwie geht es dann doch. Nachdem der Fuss getrocknet ist. Und ich noch einen grossen Teller Bratkartoffelpfanne hatte.

Das Schlusswort an diesem Abend geht an Joe, als ich stoehnend auf dem Feldbett liege.

„Wer kam eigentlich auf die Idee, in die Wildnis zu gurken und wilde Tiere zu toeten?!“
„Du stellst die richtigen Fragen…“
„Heute gebe ich dir die Schuld!“

„Ich nehme alles auf mich.“, entgegne ich, waehrend ich versuche meinen Nacken fuer die Nacht zu stabilisieren.

Ein bisschen zweifle ich schon an meinem Verstand. Koennte ich doch jetzt auch wie meine Arbeitskollegen meinen Urlaub verbringen und in Mexico oder in Hawaii am Strand liegen. Aber ich weiss, dass dieser Gedanke vorueberziehen wird und etwas Positives bleibt. Das Ergebnis von uebernommener Verantwortung, harter Arbeit, starkem Willen und Abenteuerlust:

Viele zukuenftige Mahlzeiten mit Fleisch, das mich ohne Reue oder Zweifel ueber dessen Herkunft naehren wird.
Geteilte Abenteuergeschichten, vor dem Lagerfeuer unter dem praechtigen Sternenhimmel des Yukon.
Erinnerungen, an das ueberwaeltigende Gefuehl der Dankbarkeit.
An den Grizzlybaeren, der sein Leben fuer uns gab.

Fokus

Eigentlich wollte ich nicht darueber schreiben. Jetzt mache ich es doch, denn ich weiss nicht, wie ich irgendetwas schreiben soll ohne es zu beschreiben.

Mein Chef ist krank seit zwei Monaten. Richtig krank. Er hat Tumore am Rueckenmark, die mittlerweile seine Nerven geschaedigt haben. Heisst, er kann abwaerts der Brust seine Haut nicht mehr spueren und seine Beine nur noch ziemlich unkontrolliert bewegen. Krebs ist es nicht aber eine extrem seltene Sache, sodass keiner weiss, wie es weitergeht oder auch nicht.

Er ist noch keine 40 Jahre, hat mit seiner Partnerin vier kleine Kinder im Alter von zehn bis vier Jahren. Sportlich, die Familie isst nur Bio und gute Sachen.

Und dann sowas.

Freitag habe ich ihn nach zwei Monaten wieder gesehen, er kam ueberraschend ins Buero. Mit Rollator und Hilfe seiner Partnerin. Es taete ihm gut, sich hier ein bisschen normal zu fuehlen, sagt er, waehrend er mir Zugriffe auf Datenbanken und Passwoerter und kleine Kniffe zeigt. Nach eine Stunde kommt seine Partnerin um ihn wie verabredet abzuholen. Er kann nicht so lange sitzen.

Gib uns noch etwas Zeit, bittet er sie, wir sind noch nicht fertig und ich fuehle mich gut. Sie nimmt den Vierjaehrigen an die Hand und verspricht, bald wiederzukommen.

Er haette sich abgefunden damit, Paraplegiker zu sein, erklaert er mir. Doch seit dem Wochenende merke er, dass das Gefuehl in seinen Armen schwindet. Er wurde erst weiter unten an der Wirbelsaeule operiert, daher wollen sie in Vancouver nichts machen. Am Montag hat er einen Termin in Ottawa, da wollen sie feststellen, ob er vielleicht fuer die Cyber-Knife-Methode in Frage kommt. Da wird mit hoher oertlicher Dosis Bestrahlung operiert statt mit einem Messer.

Fuer alles, was kommt, ist er vorbereitet. Falls er weder Arme, noch Beine bewegen kann, soll der Stecker so schnell wie moeglich gezogen werden. Ohne Reue blickt er zurueck „What a great life!!!“ Nur findet er es schade, dass er seine Partnerin vielleicht mit der Erziehung der vier Kinder allein lassen muss. Das ist ein grosser Job. „Wir haben so viel Zeit, Aufmerksamkeit und Liebe investiert in die Erziehung der beiden Aelteren und man sieht bereits, wie sich das auszahlt. Ich weiss nicht, ob eine Person alleine den Kleineren so viel Aufmerksamkeit bieten kann. Das ist die einzige Sache, die mich beschaeftigt.“

Seine Ernaehrung habe er auch umgestellt, er isst jetzt keto, nur noch 20 Gramm Kohlenhydrate maximal pro Tag. „Das heisst, du kannst Kaese essen, oder?!“ frage ich freudig. „Ja genau, ich esse Berge von Kaese.“ Sofort hole ich mein dickes Stueck Kaese (heute ein Tomme de Chevre des Alps) aus meiner Tasche, das ich sonst zu Mittag gegessen haette und biete es ihm an. „Vielleicht ein kleines Eckchen… hast du ein Messer?“ „Ja, habe ich, aber beiss doch einfach ab. Du kannst alles haben, ich hab noch mehr davon.“ Zwei Minuten spaeter ist vom Kaese nichts mehr uebrig, es scheint zu schmecken.

Schliesslich kommt auch die Partnerin wieder, jetzt ist es Zeit zu gehen. Wir gehen zur Tuer um sie hereinzuwinken, er sitzt auf seinem Rollator vor der Tuer und schaut heraus. Sieht ernst zu mir hoch und breitet einen Arm aus. Ich beuge mich herunter und wir umarmen uns.

Vielleicht war es das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Vielleicht koennen sie ihm helfen, dass es nicht noch schlimmer wird. Ich wuensche ihm und seiner Familie von Herzen das Beste.

Dass er ohne Reue lebt, finde ich ganz toll. Fuer wie viele Leute waere so eine Krankheit eine Gelegenheit um festzustellen, dass man nicht den eigenen Weg im Leben gegangen, sondern der Umstaende wegen so viele Kompromisse eingegangen ist, dass man nicht mehr weiss, wer man eigentlich ist.

Vor fast zwei Monaten ist ein lieber Freund von mir in Deutschland gestorben.

Vor zwei Monaten habe ich angefangen zu laufen. Mit einer Minute laufen, mehr ging nicht. Jetzt kann ich 30 Minuten laufen. Morgen will ich fuenf Kilometer schaffen.

In diesem Leben will ich eine gesunde und glueckliche Version meiner selbst sein. Es gibt keine Ausreden, kein Gejammer. Ich mache es oder ich lasse es.

Ich bin hier. Und hier bin ich genau richtig.

Nicht bereit, mich zu verbiegen. Bereit, alle Herausforderungen anzunehmen.

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Ich. Eine Seite meiner Haare sind abrasiert. Das bin ich und das ist mein Weg

Es klopft an der Wand (Achtung, blutige Bilder)

Es ist Mittwoch abend. Wieder einmal stelle ich um 21 Uhr fest, dass es schon wieder viel zu spaet geworden ist. Der Wecker klingelt um 4:20 h in der Frueh und ich brauche eine gute Muetze Schlaf, um mein Gehirn im vollen Umfang nutzen zu koennen.

Gegen 21:30 h liege ich dann auch endlich im Bett und schlafe ein. Tyrel bleibt meist noch etwas auf, da er nicht so frueh aufstehen muss und schleicht dann spaeter leise ins Schlafzimmer.

Ich werde wach, da Tyrel sich neben mir ruckartig bewegt. Draussen kracht es.

„Da ist ein Baer!!“

Klare Gedanken fassen kann ich noch nicht. Was kracht da an der Aussenwand des Schlafzimmers, warum soll das ein Baer sein und was ist hier ueberhaupt los? So frage ich dann einfach „Und jetzt?!“

„Ich werde ihn schiessen!“

Achja, es ist ja Baerensaison und wir haben zusammen ganze vier Abschussgenehmigungen fuer Schwarbaeren und zwei fuer Grizzlybaeren. Aber bitte warum wuerde ein Baer gegen unsere Wand krachen?

Waehrend ich noch versuche, die Dinge in meinem Kopf zu sortieren, ist Tyrel angezogen und hat seine Schrotflinte geladen mit speziellen kupferummantelten Bleigeschossen, petetrator slugs.

Einfach im Bett liegen bleiben kann ich auch nicht. Ich ziehe einen Wollpulli ueber und gehe ins Wohnzimmer. Um auch irgendwie bewaffnet zu sein, greife ich zu unserem Baerenspray, und komme mir dabei albern vor, als ich Tyrel durchs Fenster beim Anschleichen sehe. Aber falls der Baer Tyrel am Wickel haben sollte, ist es am besten, mit Baerenspray auf das Knaeul zu spruehen. So toetet man wenigstens nicht den Falschen aus Versehen.

Tyrel legt an und es knallt.

Dann geht er zurueck zur Tuer, wo ich ihm entgegen gehe.

„Ein Schwarzbaer! Ich hab ihn getroffen aber er ist entkommen. Wir muessen ihn aufspueren!“

Schnell lade auch ich meine neue Schrotflinte mit den penetrator slugs, schnalle meine Bauchtasche mit Jagdgenehmigung, Abschussgenehmigungen und Munition um und schluepfe in bereitstehende Gummistiefel. Wir gehen zur Abschussstelle.

Der Baer hat eine kleine Gefriertruhe umgeschmissen und inspiziert. Was ich nicht ganz nachvollziehen kann, denn sie ist leer. Hat sie vielleicht interessant gerochen? Schwarzbaeren sollen einen Geruchssinn haben, der sieben Mal besser ist als der von Hunden!

Tyrel geht schnell noch ins Haus und holt die Kopflampen fuer den Fall, dass es dunkel wird. Noch ist es zum Glueck hell so hoch im Norden. Ich stehe da mit meiner Flinte und schaue auf die umliegenden Buesche. Irgendwo ist der Baer, sehr wahrscheinlich verletzt und zu allem bereit. Die Pferde, die auf dem Feld neben unserem Haus stehen, sind ganz aufgeregt, laufen umher und geben blubberige Geraeusche von sich. Und dann hoere ich ein tiefes Stoehnen von weiter rechts, etwas entfernter. Da muessen wir hin!

Mit Tyrel streife ich durch das Gebuesch hinter unserem Haus. „Vergiss nicht, auch auf die Baeume zu schauen!“ fluestert er mir zu. Stimmt ja, Schwarzbaeren sind ausgezeichnete Kletterer. Ein komisches Gefuehl ist es schon, durch das Dickicht zu streifen in dem Wissen, dass ein verletzter Baer ganz in der Naehe ist und der Baer mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr genau weiss, wo wir gerade trampeln.

Wir schluepfen schliesslich durch den Zaun zur Pferdeweide um zu sehen, warum die Pferde so einen Radau machen. Beide Pferde stehen direkt in einer Ecke der Weide und starren auf einen Punkt. Als wir uns naehern, rennt das juengere Pferd wie von der Tarantel gestochen weg. Das Aeltere ist auch sichtlich nervoes und weicht uns schnell aus.

Tatsaechlich haben die Pferde auf den Baeren gestarrt, der etwas entfernt auf der anderen Seite des Weidezauns liegt und sich noch bewegt. Doch mit der Schrotflinte koennen wir keinen sauberen Schuss landen. Ich gehe zurueck, um das Gewehr mit Vergroesserungsglas (Scope) zu holen, waehrend Tyrel die Position der Pferde einnimmt und den Baeren im Auge behaelt.

Wieder streife ich durch Buesche und bewundere meine Jagdbekleidung. Ich trage einen Wollpulli und eine Schlafhose aus Fleece, dazu Gummistiefel, Brille und meine Zahnschiene gegen Knirschen neben Schrotflinte und Bauchtasche.

Im Haus muss ich erstmal dringend pinkeln, lade dann das Gewehr, packe extra Munition in meine Bauchtasche und schnalle das Gewehr auf den Ruecken. In den Haenden halte ich nach wie vor die Schrotflinte. Die ist einfach praktischer im Busch, falls man sofort auf eine Situation reagieren muss.

Tyrel hat in der Zwischenzeit seine Position gewechselt, der Baer ist aufgestanden. Mittlerweile liegt er wieder auf dem Ruecken und wir versuchen uns zu einer Position zu bewegen, in der wir einen sauberen Schuss landen koennen. „Wenn er noch mehr in diese Richtung geht, verschwindet er im Sumpf. Wir muessen ihn umzingeln!“, weist Tyrel an. Einen verletzten Baeren zu umzingeln hoert sich nicht nach der Beschaeftigung an, die man der Nachtruhe unbedingt vorziehen wuerde. Doch ich moechte in diesem Moment nur noch eins: Das Leid des Baeren beenden.

Als wir den Baeren zu umkreisen versuchen, rappelt er sich wieder auf und geht weiter. Ich kann meine Augen nicht von ihm lassen, es ist ein majestaetischer Anblick, wie der Baer in seiner Kraft trotz seiner Schmerzen noch so schreiten kann. Dann sieht Tyrel eine gute Schussposition und schiesst zwei Mal. Der Baer bricht zusammen.

Er stoehnt und windet sich, rollt einen Abhang herunter. Dann wird es sehr still. Wir beobachten den Baeren fuer ein paar Minuten. Nichts ruehrt sich.

Jetzt ist es Zeit, an die naechsten Schritte zu denken. Tyrel entwertet eine Abschusserlaubnis. Wir gehen zum Haus und ueberlegen, wie wir den Baeren transportieren koennen. Die Moskitos zerfleischen uns so nah am sumpfigen Gebiet und es waere schoen, wenn wir ihn etwas geschuetzter verarbeiten koennten. Leider ist uns ein Griff unserer Schubkarre vor zwei Wochen abgebrochen. Und wie bekommen wir den Baeren den Hang hoch? Ich schlage vor, es mit dem Plastikkinderschlitten zu versuchen, der uns schon beim Transport des Bisons gute Dienste erwiesen hat.

Beim Haus spruehen wir erstmal die anscheinend verlockende Gefriertruhe mit Chlorwasser aus, damit wir nicht noch mehr Baeren anlocken. Ich ziehe mir Handschuhe an, da es jetzt wahrscheinlich blutig wird. Mit Schlitten und kaputter Schubkarre kehren wir zurueck. Zwei Schrotflinten haben wir natuerlich noch dabei. Manchmal werden weitere Baeren von den Schuessen angelockt.

Wir stellen den Schlitten neben den Baeren und versuchen ihn hinein zu rollen. Mit ist ganz mulmig zumute, der Baer hatte sich eben noch bewegt und sieht so aus, als wuerde er nur schlafen. Da stelle ich mich lieber an das hintere Ende. Als Tyrel das Vorderbein bewegt, ertoent ein Grollen und ich erschrecke mich. Doch das Grollen wurde durch die Loecher in der Lunge erzeugt, durch die beim Bewegen Luft stroemte. Schliesslich liegt der Baer im gelben Schlitten.

Der Baer ist ein stattliches Maennchen mit geschaetzt 150 kg Gewicht. Der Geruch steigt mir in die Nase und ich verstehe nicht, dass ich diesen Geruch nicht immer im Gedaechtnis habe. Suess-feucht-herb. Meine DNA scheint ihn seit Urzeiten zu kennen, meine Nackenhaare stellen sich auf. Es scheint der Geruch der Gefahr zu sein.

Zwischen duennen Baeumen und Gebuesch zerren wir den Baeren schliesslich den Hang hoch. Neben den Schlitten legen wir die Schubkarre auf die Seite und schaffen es irgendwie, die Schubkarre samt Baeren aufzurichten. Der Weg nach Hause mit Baeren in der Schubkarre ist lang. Wir koennen nicht ueber die Pferdeweide abkuerzen und durch kein Gebuesch fahren. Doch irgendwann stehen wir vor dem Haus.

Wir raeumen den Weg frei von der Haustuer bis zum grossen Tisch in Wohnzimmer und legen aufgeschnittene Plastiksaecke aus, um das spaetere Aufraeumen zu begrenzen. Dann hiefen wir die Schubkarre Stufe fuer Stufe zur Haustuer und fahren den Baeren ins Wohnzimmer. Hier atmen wir erstmal tief durch.

Ich zuecke den Fotoapperat, irgendwie moechte ich nicht, dass der Baer so ganz gesichtslos in unserer Gefriertruhe verschwindet.

Waehrend Tyrel mehr Muellsaecke ausbreitet und den Wohnzimmertisch fuer das Verarbeiten vorbereitet, raeume ich den Kuehlschrank um und nehme Glasplatten und Schubladen heraus. Zum Glueck haben wir nicht viel im Kuehlschrank, ich wollte nach der Arbeit gross einkaufen. Jetzt denke ich, dass es in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit weise ist, den Baeren nur auszuweiden, zu Haeuten und in grosse Stuecke zu teilen, die man dann im Kuehlschrank fuer ein paar Tage aufbewahrt, bis man alles zerteilt und einfriert.

Als alles vorbereitet ist, muss der grosse Baer noch irgendwie auf den Tisch gewuchtet werden. Ich merke, wie mir die Kraefte mit jedem neuen Versuch mehr versagen und mein Koerper nach Schlaf verlangt. Tyrel schlaegt vor, dass wir drei Betonschalungssteine aus dem Garten holen und die Schubkarren an sich aufbocken. Hier lerne ich mal wieder ein neues englisches Wort, diese Steine nennt man cinder blocks, was sich mit Schlackenblock uebersetzen liesse. Nach weiteren Kraftanstrengungen helfen uns diese Steine tatsaechlich, die Schubkarre aufzubocken und den Baeren auf dem Tisch zu platzieren.

Tyrel sieht mich an und ich scheine so auszusehen, wie ich mich fuehle. Er schickt mich ins Bett. Fuer anderthalb Stunden versuche ich zu schlafen, muss aber immer wieder an den Baeren denken und wie dankbar ich bin, dass ich ihn von so Nahem betrachten konnte. Dann frage ich mich, warum ich nicht wie andere auch die Baeren bei einer Wohnmobilreise vom Strassenrand aus beobachten kann. So richtig eine Antwort faellt mir nicht ein. Die Jagd jedoch ist mittlerweile zu einem wichtigen Bestandteil in meinem Leben geworden. Es fuehlt sich ehrlich an, das Fleisch zu essen von einem Lebewesen, in dessen letzten Lebensminuten man dabei war. Es ist eine Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Keine Auslagerung der Verantwortlichkeiten.

Schliesslich uebermannt mich noch ein kurzes Nickerchen. Ich traeume, dass Tyrel und ich unbedingt in die Pullman City Westernstadt im Harz muessen, um eine Auskunft zu erhalten. Doch die Wetsernstadt ist geschlossen. Dann klingelt der Wecker. Komischerweise fuehle ich mich nicht so schlecht wie vermutet.

Als erstes moechte ich sehen, wie sich Tyrel schlaegt. Ich oeffne die Schlafzimmertuer und ein beissender Geruch kommt mir entgegen. Eingeweide. Im Wohnzimmer treffe ich auf einen ueberraschend zurechnungsfaehig wirkenden Mann, der den Baeren komplett ausgeweidet hat. Jetzt ist nur noch das Haeuten und Zerteilen dran. Ob er das schafft, bevor er auch zur Arbeit muss? Er ist zuversichtlich, obwohl es nur noch wenige Stunden bis dahin sind.

Ich mache mich fertig und gehe zur Arbeit. Spaeter korrespondieren Tyrel und ich. Gegen Mittag schickt er mir eine Nachricht, dass ihm gerade aufgefallen ist, dass er beim Haeuten anscheinend doch etwas muede war. Ich soll in den Kuehlschrank gucken, wenn ich nach Hause komme.

Im Kuehlschrank finde ich dann Folgendes vor:

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Der Kuehlschankinhalt. Eine Menge Baerenfleisch, dann der Hals und Kopf. Doch der Kopf ist noch voll bepelzt.

Tyrel muss so geistig umnachtet gewesen sein aufgrund des Schlafmangels, dass er den Pelz um den Kopf einfach abgeschnitten hat. Okay, das sieht dann wahrscheinlich komisch aus, wenn man das Baerenfell ohne Kopf hat. Aber vielleicht verarbeiten wir es nach dem Gerben ja und machen Handschuhe daraus, oder einen Bikini. Dann faellt es gar nicht mehr auf. 🙂

Einige Teile hatten nicht mehr in den Kuehlschrank gepasst. Die hat Tyrel dann in unsere Gefriertruhe gelegt und wir haben sie nach der Arbeit wieder herausgenommen und verarbeitet. Doch an dem Rest sitzen wir immer noch dran. Der Baer ist ganz schoen gross und hatte auch gute Fettreserven. Vor allem dafuer, dass die Baeren erst vor kurzem aus dem Winterschlaf erwacht sind. Daher wundert es mich noch mehr, dass er unsere leere Kuehltruhe demolieren wollte.

Ich betrachte sein Opfer einfach als ein grosses Geschenk, fuer das ich sehr dankbar bin! Und jetzt mache ich mich an die Zubereitung des heutigen Abendessens. Es gibt Baerengulasch.

Bison Jagd – der dritte Versuch (Achtung, blutige Bilder, langer Beitrag!)

Es ist Mitte November 2017. Tyrel und ich haben ganze fuenf Tage zusammen frei! Schnell beschliessen wir, wieder auf Bisonjagd zu gehen. Die letzten beiden Male hat es zwar nicht geklappt (und auch der Elchversuch wurde nichts) aber auf dem Sofa vor dem Kamin sind die Jagdchancen gleich Null! Ausserdem ist das Campen im Winter immer wieder besonders schoen, wenn auch nicht sehr komfortabel. Die Wettervorhersage schwankt zwischen -25 und -30 Grad. Brrr.

Eigentlich wollten wir uns ja ein Schneemobil anschaffen. Die letzten zwei Jagdversuche haben gezeigt, dass man ohne solches keine reellen Chancen hat, da die Bisons gleich am Anfang der Saison von den ersten Jaegern ins Hinterland gescheucht werden. Und zu den Orten, an denen sich die Herde dann aufhaelt, genuegt auch ein strammer Dreitagesmarsch nicht. Die Strapazen, das ganze Tier dann mit dem Schlitten nebst Ausruestung zurueckzuziehen, will ich mir gar nicht vorstellen.

In unser Budget passte nur ein ziemlich gebrauchtes Schneemobil und der Kleinanzeigenmarkt gab nichts her, was Tyrels Anspruechen genuegte. Ich kenne mich nicht aus mit Schneemobilen, daher vertraue ich einfach seiner Expertise.

An einem freien gemeinsamen Vormittag vor unserer freien Zeit fahren wir also gemeinsam raus zu unserer letzten Bisonjagdstelle und wandern zu dem Ort, wo wir im Januar 2017 unsere Schlitten mit Ausruestung ueber einen zugefrorenen Fluss gezogen haben. Einfach um zu gucken, wie viele Schneemobilspuren schon zu sehen sind. Vielleicht sind die Bisons ja noch gar nicht vertrieben!

Vor Ort erwartet uns eine gute und eine schlechte Nachricht. Gut: Noch keine Spuren von Schneemobilen! Schlecht: Der Fluss ist noch nicht zugefroren!!!

Nach langem Ueberlegen, waten im Fluss und Gummistiefeln voller eisigem Wasser dann die Ueberlegung: „Wir koennten an dieser Stelle vielleicht mit dem Truck durch den Fluss fahren!“ Wenns klappt, super! Wenns nicht klappt, ganz grosser Mist. Dann muessen wir versuchen, den Truck mit Seilwinde irgendwie wieder rauszuziehen. Bei -25 Grad, im Wasser. Aber Tyrel zeigt sich zuversichtlich, wenn wir nur Schneeketten und genug Last im Truck haben. Wir beschliessen, unseren Freund James nach Rat und ggf. seinen Segen zu fragen, immerhin wohnt er schon etliche Jahrzehnte im Yukon.

James haelt das Vorhaben fuer moeglich. Allerdings fuegt er hinzu, dass er zu alt fuer den Scheiss ist und keine Lust haette, den Truck selbst aus dem Fluss zu ziehen im Fall der Faelle. Aber in unserem Alter, klar.

Wir packen also reichlich Proviant und Wechselklamotten zu den ganzen Jagdutensilien. Einen Tag vor Abreise kommt mir dann aber noch eine Idee!

Eine Nachricht ging vor kurzem durch ganz Kanada und vor allen den Yukon. Bei der Bisonjagd hat ein pensionierter Forstbeamter ein Bison angeschossen, welches daraufhin zurueck in den Wald gewandert ist, als waere nichts passiert. Nach 20 Minuten Warten ist er dem Bison nachgegangen, um es zu erlegen. Fataler Fehler: Das Gewehr hatte er dabei auf den Ruecken geschnallt! Im Wald ueberrascht das Bison ihn dann und fuegt ihm etliche Verletzungen zu, bis es keine Lust mehr hat, ihm um einen Baum herum nachzujagen. Dann wird es schliesslich erlegt. Wer die originale Geschichte lesen, will, klicke hier.

Meiner Meinung nach waren es zwei Fehler, die der Jaeger begangen hat:

  1. Wenn man in den Wald geht, um ein verwundetes Tier zu suchen, sollte man das Gewehr bereits in der Hand halten.
  2. Wenn ich nicht sicher bin, ob ich das Tier gut treffen kann, schiesse ich nicht. 250 Meter ist ne Menge, wenn man nicht sehr erfahrener Schuetze ist und je nach Kaliber laesst dann auch die Schusskraft schon entscheidend nach.

Jetzt aber zurueck zu meiner Idee: Der besagte Jaeger war nicht alleine auf Jagd, sondern begleitet von seinem 72jaehrigen Freund Fred, der sich zur Zeit der Bisonattacke im Truck ausgeruht hat. Wir kennen Fred, da wir einen gemeinsamen Freund haben! Meine Idee also: Wir koennen doch einfach mal nett fragen, wo sich dieses Drama abgespielt hat. Wenn da ein Bison war, haengt da vielleicht noch ein zweites rum.

Nach einem Telefonat steht der Plan. Wir werden alles packen wie geplant, fahren zuerst zur Stelle aus den Nachrichten, wandern ein wenig herum und dann, wenn wir nichts sehen, geht es mit dem Truck hoffentlich sicher durch den eisigen Fluss.

Schliesslich ist es soweit. Wir fahren los und finden auch die beschriebene Abfahrt vom Highway und die weiteren Gabelungen, die uns zum Tatort des Bisonangriffs bringen. Nachdem wir etwas gefahren sind, parken wir den Truck und steigen aus, um uns etwas umzusehen.

Nach einer Minute finde ich Bisonspuren im Schnee!! Es schneit jedoch ein bisschen und es herrscht auch leichter Wind, sodass man nicht genau sagen kann, wie alt die Spuren sind. „Vielleicht von letzter Nacht.“ schaetzt Tyrel. Natuerlich folgen wir den Spuren um zu sehen, wohin das Bison letzte Nacht gewandert ist.

Die Spuren den Bison fuehren zu einem kleinen See und dann am linken Ufer entlang. Sie verlaufen nicht geradeaus, sondern immer mal wieder zu Buschwerk und Baeumen, dann und wann ist etwas Schnee aufgekratzt. Wahrscheinlich hat es nach Futter gesucht auf seinem Weg.

Schliesslich fuehren die Spuren einen Hang hinauf auf ein Plateau. Tyrel und ich kraxeln hinauf.

„BISON!!!“ schreifluesstert Tyrel.

Ca. 20 bis 30 Meter vor uns steht tatsaechlich ein Bison.

Mein Herz faengt an zu rasen, ich kann es nicht fassen.

Tyrel laedt das Gewehr und zielt.

Doch das Bison hat uns auch entdeckt und schaut uns direkt an. Ganz ruhig steht es da und guckt. Bewegt sich nicht.

So kann natuerlich nicht geschossen werden. Man muss das Tier von der Seite erwischen. Nur so kann sichergestellt werden, dass der Schuss Lunge und/ oder Herz trifft und das Tier moeglichst schnell stirbt. Ein Kopfschuss kann schnell abprallen durch die dicke Schaedeldecke oder nicht-lebenswichtige Bereiche des Hirns treffen. Wuerde man das Tier frontal in den Brustbereich schiessen, ist das Brustbein im Weg und die Gefahr ist gross, dass der Schaden nicht an Herz und Lunge, sondern den Eingeweiden auftritt und das Tier unnoetig leidet sowie das Fleisch verunreinigt wird.

Das Bison muss sich also langsam zur Seite drehen! Wenn es so verharrt, kann Tyrel nicht schiessen. Wenn es wegrennt, ist das Ziel wahrscheinlich zu unsicher und wenn es auf uns zurennt dann muessen wir uns wahrscheinlich auch einen Baum suchen, um den wir herumrennen koennen.

Das Bison starrt. Und starrt. Tyrel zielt. Und ich? Ich halte mir die Ohren zu, mein Herz rast wie verrueckt und ich kann nicht aufhoeren, schnell durch den Mund zu atmen. Wahrscheinlich wirke ich gerade mehr als idiotisch! Meinen Blick kann ich nicht vom Bison wenden.

Da fuehle ich Tyrels Arm an meinem und ich hebe die Haende von meinen Ohren. „Sei leise! Du atmest total laut!!!“ Ja, recht hat er aber ich bin aus der Puste wie nach einem Langlauf! Ich versuche also halbwegs leise zu atmen und das dann auch noch durch die Nase.

Das Bison bewegt sich. Ganz langsam. Erst den Kopf. Dann geht es einen Schritt zur Seite und der Koerper steht schliesslich seitwaerts zu uns.

Ein Knall.

Ist das Bison getroffen?? Es bewegt sich langsam und… dreht die andere Koerperseite zu uns!!

Tyrel laedt nach und ein weiterer Knall ertoent.

Das Bison dreht uns den Hintern zu und geht gemaechlich ein paar Schritte zum naechsten Baum. Dort legt es sich auf die Seite.

Tyrel geht auf das Bison zu, ich halte ihn am Arm fest. „Lass es in Ruhe sterben!! Wenn du es erschreckst, steht es nochmal auf und rennt weg!!“ „Ich moechte doch nur eine bessere Sicht haben, damit ich nochmal schiessen kann, falls es aufsteht.“ „Okay, aber lass es in Ruhe! Ich hole den Truck.“

Atemlos laufe ich durch den Schnee bei -25 Grad den Hang hinunter. Dann beschliesse ich, dass es jetzt auch nicht mehr auf eine Minute ankommt und gehe einfach schnell. Ich kann es nicht fassen. Ein Bison!!

Nach 10 Minuten Fussmarsch erreiche ich den Truck und fahre ihn rueckwarts an den Hang hinan. Tyrel kommt mir entgegen. „Es ist tot, ich hab es ihs Auge gepiekt.“ Ins Auge pieken ist uebrigens ein ueblicher Test zu ueberpruefen, ob ein Tier tot ist. Der Reflex, das Auge zu schliessen, wenn etwas hineinpiekt, ist einer der letzten, der versagt.

„Als erstes muessen wir ein Feuer starten. Unten am See habe ich ein paar tote Baeume gesehen. Ich werde die gleich in Stuecke saegen und du kannst mir helfen, alles zum Bison zu tragen.“

Tyrel schnappt sich die Kettensaege, gestiftet von Oma und Opa, und ich greife mir den gelben Kinderschlitten, um schon Messer, Fleischbeutel, Aexte und sonstige Utensilien zum Bison zu bringen. Achja, die Kamera nicht vergessen.

Waehrend die Kettensaege vom Seeufer ertoent, stehe ich vor dem toten Bison und versuche irgendwie Danke zu sagen. Aber wie? Keine Worte die ich kenne, koennen Mitleid, Dankbarkeit, Trauer und Freude so ausdruecken, wie ich das alles jetzt empfinde. Ich streichel den Bisonkopf und sage einfach „Danke“.

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Der Bisonkopf ruht im Schnee.

 

Ein wenig merkwuerdig sieht der Kopf vom Bison schon aus, denke ich mir. Irgendwie verbeult. Andererseits hab ich ja auch wenig Vergleichsmoeglichkeiten mit auf der Seite liegenden Bisons von Nahem bislang.

Kurz haenge ich meinen Gedanken nach, dann steige ich hinab zum Geraeusch der Kettensaege. Schliesslich liegt eine Menge Arbeit vor uns.

Das ganze gesaegte Holz wird den Hang hochgeschleppt, dann hacken wir Holz mit der Axt und starten ein Feuer. Das Feuer brauchen wir unbedingt, um die Messer und Haende aufzuwaermen wahrend des Haeutens. Wenn Blut oder Fett am Messer festfriert (bei -25 Grad sehr wahrscheinlich) ist die Klinge stumpf und schneidet nicht mehr. Und auch die Finger werden durch die nassen Handschuhe kalt und unbeweglich. Im Herbst und Sommer muss man sich darum keine Gedanken machen.

Es handelt sich uebrigens um ein maennliches, sehr junges Bison. Ein Blick in das Maul verraet, dass es gerade die Milchzaehne verliert und die Hoerner zeigen nach oben, das heisst es ist etwa drei bis vier Jahre alt. Zum Groessenvergleich ein Bild zusammen mit mir.

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Ich knie hinter dem Bison im Schnee. Bis auf den aufgeblaehten Bauch ist das Bison nicht sehr maechtig.

Sobald das Bison stirbt, kann das natuerlich entstehende Gas in den vielen Maegen nicht mehr hinaustransportiert werden. Deshalb schwillt der Bauch an.

Als erstes muss das Bison auf den Ruecken gedreht werden, damit mit dem Haeuten begonnen werden kann. Unser Bison ist klein und kann problemlos mit zwei Personen bewegt werden. Allerdings ist es schwierig, es auf dem hohen Nackenkamm zu balancieren. Daher nehmen wir zwei Holzscheite zur Hilfe, die wir links und rechts an die Seiten klemmen.

 

Das Ende vom Brustbein wird erfuehlt und die Haut vorsichtig eingeschnitten. Man moechte schliesslich nicht die Eingeweide verletzen, die ziemlich unter Druck stehen.

Das Haeuten dauert ein paar Stunden. Man moechte vorsichtig vorgehen, damit keine Loecher im Fell entstehen und auch das Fleisch nicht unnoetig angeschnitten und beschaedigt wird.

Schliesslich ist das Bison entkleidet und liegt auf seinem Fell wie auf einer Decke.

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Die ersten Hufglieder werden abgetrennt und schliesslich auch der Kopf, den Tyrel mit der Axt vom Koerper trennt.

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Der Bisonkopf liegt abgetrennt im Schnee.

Leicht ist jetzt am Kopf zu erkennen, dass eine Seite stark geschwollen ist. Das Bison konnte wahrscheinlich nicht mehr gut sehen auf der Seite und muss Schmerzen gehabt haben. Vielleicht hatte es Zahnschmerzen, weil es Probleme mit dem Wechsel von Milchzaehnen zu normalen Zaehnen gab? Auch die Hoerner sehen etwas asymmetrisch aus.

Um den Ruecken vom Fell zu trennen, muessen wir die Holzkeile entfernen und das Bison erst auf die eine, dann auf die andere Seite drehen. Das Fell bleibt dabei die ganze Zeit als saubere Unterlage fuer das Fleisch liegen.

 

Der naechste Schritt ist normalerweise das Ausweiden. Da die Innereien aber so unter Druck stehen, kann es sein, dass sie beim Ausweiden explodieren und saemtliches Fleisch verunreinigen. Daher entscheiden wir uns dafuer, zunaechst die Keulen zu entfernen, damit diese bei einer moeglichen Explosion nicht verunreinigt werden koennen.

Jetzt, wo nur noch der aufgeblaehte Rumpf des Bisons vor uns liegt, fasst sich Tyrel ein Herz und oeffnet ganz vorsichtig die Bauchdecke. Ein grosser Ballon kommt uns entgegen. Tyrel schafft es tatsaechlich nichts zu beschaedigen, sodass die Innereien zum Glueck nicht explodieren. Alles bleibt frei von Magen- und Darminhalten.

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Ein riesiger Ballon voller Maegen und Eingeweide entspringt dem nun klein aussehenden Bisonrumpf. Daneben liegen Fell und Kopf.

Nach dem Ausweiden steht der Transport zum Truck an. Hierbei ist wichtig, dass man das ganze Fleisch zuerst transportiert und erst zum Schluss das Fell und den Kopf. Wenn man naemlich zuerst den Kopf zum Truck bringt und dann ein Mitarbeiter der Jagdbehoerde vorbeikommt, ist es so, als wolle man das Fleisch da vergammeln lassen. Und das ist strafbar. Von einem Bison muss alles Fleisch verwendet werden. Kopf und Fell ist optional. Das ist anders beim Baeren, bei dem man das Fell verwenden muss, das Fleisch aber zuruecklassen kann. Das finde ich ungerecht. Wenn man ein Tier toetet, dann soll man es meiner Meinung auch essen und das Fleisch nicht verkommen lassen. Dabei ist es egal, ob es sich um Bison oder Baer handelt, bei richtiger Zubereitung ist beides gesund und lecker.

Als alles Fleisch und schliesslich auch Kopf und Fell im Truck verstaut sind, muessen wir natuerlich noch aufraeumen. Unsere ganzen Sachen nehmen wir mit. Dann sind nur noch die Eingeweide da und das Feuer.

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Der riesige Haufen Eingeweide ist groesser als das Feuer aus aufgetuermten Holzscheiten.

Tyrel erklaert mir, dass wir noch die Eingeweide auf das Feuer rollen muessen. „Warum denn?“ wundere ich mich, schliesslich ist das Feuer nun wirklich nicht in der Lage, die Eingeweide zu verbrennen. „Der Geruch, der entsteht, ist kilometerweit wahrnehmbar fuer alle Fuechse, Kojoten, Woelfe und Raben. Und meinst du nicht, die freuen sich bei diesen Temperaturen ueber eine warme Mahlzeit?“ Na gut, das leuchtet ein!

Als ich das abschliessende Bild von den Eingeweiden auf der Feuerstelle und dem zerlegten Bison im Truck schiessen moechte, gibt der Akku meiner Kamera entgueltig den Geist auf. -25 Grad sind nicht sehr batteriefreundlich.

Waehrend wir nach Hause fahren, wird es Nacht. Ich kann immer noch nicht glauben, was passiert ist. Zweimal fahren wir hinaus in die Wildnis und ziehen tagelang Schlitten durch den Schnee hinter uns her und sehen nichts. Und dann koennen wir den Truck fast 100 Meter an das Bison heranfahren? Verrueckt.

Zuhause stellt sich erstmal die Frage, wo wir das Bison lagern. Wir wollen es die naechsten Tage ueber zerlegen und unsere Wohntemperatur zu warm, die Aussentemperatur zu kalt, der Kuehlschrank zu klein. Schliesslich kleiden wir unser Naehzimmer komplett mit neuen Planen aus, oeffnen das Fenster ein bisschen und schliessen die Tuer. Das Thermometer bestaetigt die perfekte Kuehlschranktemperatur.

Jetzt, wo wir fuer heute Feierabend machen koennen und sich die Aufregung legt, merken wir, wie hungrig wir sind. Schnell rolle ich einen Fertig-Pizzateig aus, backe ihn vor und bereite den Pizzabelag vor. Tomatensauce, Gewuerze, Mais, Spinat, KAESE und… haben wir noch etwas Fleisch? Aeehm… einen ganzen Raum voll?

So entsteht das erste Gericht mit Bisonfleisch: Bisonpizza.

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Ein Blech voller Bisonpizza stillt den grossen Hunger.

Als wir dann auf dem Sofa sitzen und verdauen, werde ich ganz traurig.

Ich fuehle mich so hilflos und kann es einfach nicht verstehen. Vor einigen Stunden hat mich ein Bison angeschaut. Jetzt liegt ein Fleischberg in unserem Naehzimmer. Wo in aller Welt ist das Bison hin?!? Wo ist das, was sich bewegt hat? Was ist der Unterschied zwischen lebendig und tot und wohin kann er so ploetzlich verschwinden??

Warum hat das Bison Schmerzen gehabt? Mit welchem Recht koennen wir es essen? Warum muessen wir Tiere oder Pflanzen essen zum leben? Und in was fuer einer Gesellschaft leben wir eigentlich, dass mich die Realitaet dieser Fragen erst im Alter von 29 Jahren erwischt?!?

Ganz in Ruhe konnte ich mit Tyrel ueber alles reden. Er glaubt, dass es einfach eine Art Elektrizitaet ist, die das Bison vom Fleischberg unterscheidet. Die Elektrizitaet war in dem Bison, sie ist in uns und auch in einer Zuendkerze, wenn wir ein Auto starten.

Vielleicht muss Leben vergehen, damit Leben entsteht und Leben erhalten wird. Und spielt es dabei eine Rolle, ob es eine Pflanze ist, die ihr Leben gibt oder ein Tier, solange es respektvoll geschieht? Ich glaube, beide koennen fuehlen.

Warum bietet unsere Gesellschaft oder Kultur keine Hinweise, wie man seine Dankbarkeit und seinen Respekt ausdruecken kann, fuer ein Lebewesen, dass einen naehrt? Warum klammern wir alles aus, was mit diesen komplexen, widerspruecklichen Gefuehlen zu tun hat? Nimmt es uns nicht ein Stueck Realitaet?

In den naechsten Tagen zerlegen Tyrel und ich das Bison Stueck fuer Stueck und frieren die Stuecke ein.

Als wir die beiden Hinterkeulen zerlegen, bemerken wir grosse Verletzungen an beiden Keulen, die wir grosszuegig hinausschneiden muessen. Es sieht so aus, als waere das Bison von einem anderen Bison in den Hintern gespiesst worden. Vielleicht haben sie gemerkt, dass es Zahnschmerzen hat und nicht ganz gesund ist, und es daher aus der Herde vertrieben. Das kleine Bison tut mir noch ein Stueck mehr leid.

Doch da muss ich an eine Weissheit der Ureinwohner denken. Sie sagen, dass in dem Moment, in dem du ein Tier erlegst, gibt es freiwillig seinen Leib, um dich zu naehren. Es ist ein grosses Geschenk, was dir widerfaehrt. Sei dankbar und handle mit Respekt.

Der Gedanke hilft mir. Und war es nicht tatsaechlich ein bisschen so, dass sich das Bison nach langem Starren einfach in die perfekte Position zum Abschuss gestellt hat, gleich zwei Mal?

Spaeter, beim Zerlegen der Vorderkeulen, mache ich noch eine Entdeckung.

Das Projektil vom ersten abgegebenen Schuss hat die Vorderkeule getroffen und ist nach ca. 2 cm Eindringtiefe von einer dicken Sehne gestoppt worden. Das erstaunt Tyrel und mich sehr. Immerhin war das Bison nur ca. 20 Meter von uns entfernt, Wir haben das empfohlene Kaliber und Geschoss verwendet, sowie superteure Premium-Munition. Wir beschliessen, ein staerkeres Gewehr zu kaufen, wenn wir das naechste Mal auf Bisonjagd gehen. Am besten eins fuer Elefanten.

Und wieder bin ich dankbar, dass das Bison sich nocheinmal auf die andere Seite gewandt hat, sodass schliesslich Herz und Lunge getroffen wurden. Es haette ja auch verwundet weglaufen koennen.

Auch wenn diese Erfahrung zum Teil traurig war, habe ich sehr viel gelernt, was ich nicht missen moechte. Ein bisschen verwundert bin ich, dass mich der Tod des Baeren nicht so traurig gemacht hat. Allerdings kam der ja auch zu uns und hat sich nicht ganz korrekt verhalten.

Danke an alle, die diesen langen Beitrag ganz bis zum Ende gelesen und diese lehrreiche Zeit nochmals mit mir durchlebt haben! 🙂