Sourdough Rendezvous

Dem Fruehling auf der Spur

Der Winter dauert hier im Norden relativ lange. So ungefaehr die Haelfte des Jahres macht er aus. Und bekanntlich geht man im Winter auch nicht ganz so haeufig vor die Tuer, der Kamin ist manchmal doch einladender als -30 Grad, Schnee und Dunkelheit.

Die Folge: Cabin fever, oder zu deutsch Huettenfieber.

Die Decke faellt einem auf den Kopf, die Waende kommen naeher und man ueberlegt, ob man jetzt nicht doch lieber die Sonne von Barbados zusammen mit den Flippers geniessen moechte.

Doch in Whitehorse gibt es jedes Jahr im Februar die Sourdough Rendezvous (deutsch: Sauerteig Verabredungen), die dieses cabin fever lindern sollen. „Los, wir gehen unter Menschen!“ fordere ich Tyrel auf. „Was willst du denn da?“ „Naja, es gibt lustige Wettbewerbe und Ahornsirup Toffees…“ „Aber die koennen wir doch auch selbst hier herstellen!“ „Keine Widerrede, wir gehen morgen da hin. Wenn du nicht mitkommst, gehe ich mit wem anders.“ „Na gut…“

Schliesslich sind wir in die Weltstadt Whitehorse gefahren und kommen in der Zeit zwischen zwei Wettkaempfen an. Kettensaegenweitwurf war gerade beendet. Die beste Zeit, um alle Fressbuden zu inspizieren und sich nach der letzten Bude beim vielversprechendsten Stand einzureihen. Es gibt einen Cheeseburger in einem Bannock (Indianerbrot, das die Ureinwohner von den ersten schottischen Einwanderern erlernt und abgewandelt haben). Gut ausgeruestet schauen wir ein paar Kandidaten dabei zu, wie sie mit einer Bogensaege ein Stueck Holz absaegen und anschliessend gesaegtes Holz mit einer Axt zerhacken. Meine Finger werden schnell kalt durch den Wind bei -15 Grad. Ich beeile mich mit dem Burger und lasse die Haende in meinen grossen Aermeln verschwinden, waehrend wir weiterschlendern.

P_20180225_120413

Ich beisse beherzt in den Bannockburger waehrend hinter mir handgesaegt wird.

Als Nachtisch gibt es natuerlich den Ahornsirup-Toffee, der mich hierher gelockt hat. Um ihn herzustellen, wird Ahornsirup aufgekocht und in einer Linie auf verdichteten Schnee gegossen. Nun legt man an ein Ende der Linie einen Eisstiel, wartet etwas und rollt die Ahornsirupmasse am Stiel auf. Fertig ist die kanadische Leckerei. Leider gibt es hier im Norden keine Hartholz-Baeume und somit auch keinen Ahorn. Aber die suedlichen Provinzen produzieren genug fuer uns alle.

Ein Toffee ziert meine Hand, waehrend wir uns die Schneeskulpturen ansehen, die Kuenstler aus verschiedenen Laendern hier ausstellen.

Meine Haende werden wieder etwas kuehl. Zum Glueck finde ich schnell ein Feuer, an dem ich sie wieder aufwaermen kann.

P_20180225_121738

Ich sitze auf einem Schneeblock vor einem Schneeholzstapel und waerme mir die Finger an einem Lagerfeuer, ganz aus Schnee an das sich auch ein Schneebaum lehnt.

Fuenf Minuten spaeter sehen wir wieder Leuten beim Holzsaegen zu, die dies augenscheinlich zum ersten Mal machen. Ich sehe mich um und bemerke, dass beim Seifenkistenrennen in Salzgitter Steterburg mehr los ist. „Komm Tyrel, lass uns spazieren gehen!“

Der grosse, baertige Mann hat keine Wahl und laeuft neben mir her am Yukon River, der fast komplett zugefroren ist dieses Jahr. „Wie schoen die Sonne scheint…“ Wir gehen eine ganze Weile nebeneinenander her. Die Sonne ist schon so kraeftig und trotzdem dauert es noch eine ganze Weile, bis der Fruehling wieder regiert. Wie komisch, es fuehlt sich schon so nach Fruehling an, trotz der -15 Grad! Da weist mich Tyrel auf etwas hin: „Schau, die Weiden!“

IMG_20180225_123513

Die ersten Weidenkaetzchen lugen unter Pulverschnee am Weidenzweig hervor.

„Wie geht das denn? Wachsen Pflanzen nicht nur, wenn es 5 Grad oder mehr sind? Wie koennen Weidenkaetzchen bei diesen Temperaturen einfach so herumplueschen?“ „Es sind Weiden, denen ist das Wetter egal.“ Ich nehme die Logik einfach so hin und freue mich, dass nicht nur ich den Fruehling gespuert habe.

Sourdough Rendezvous

Letzte Woche stand Whitehorse ganz im Zeichen der Sourdough Rendezvous – eine Woche voller Aktionen und Jahrmarktstimmung zur Erinnerung an die Zeit des Goldrausches vor gut 100 Jahren.

Sourdough wurden die Goldsucher genannt, die ihren ersten Winter im Yukon ueberlebt hatten. Meist war ihr groesster Schatz immer noch der Sourdough, zu deutsch Sauerteig, der sie den Winter ueber mit frisch gebackenem Brot ernaehrt hat.

Am Samstag begab ich mich dann auch ins Getuemmel fuer Yukon-Verhaeltnisse. Es waren bestimmt einige Hundert Leute auf dem Festgelaende und das schon um die Mittagszeit! Natuerlich nicht zu vergleichen mit der Sommerzeit, in der Whitehorse zu einer Touristenhochburg wird. Und auch zum Hundeschlittenrennen Yukon Quest ist mehr los. Aber fuer den Otto-Normal-Winter… nicht schlecht!

Der internationale Schneeskulpturen-Wettbewerb bat ca. 15 Exponate auf. Die meisten waren irgendwie abstrakt aber ich habe eine Darstellung einer aelteren Dame mit Hund, Katze, Buechern und Geschirr bewundert.

img_20170225_104559

Eine aeltere, wohlgenaehrte Dame im Unterhemd beugt sich nach vorne, um ihrem Maennchen machenden Hund einen Kuss auf die Schnauze zu geben. Eine Katze schaut fragend zu ihr hoch. Im Hintergrund ein zerknautschtes Sofa mit weiterer Katze und ein Beistelltisch mit Teekanne, Tasse und Loeffel und einigen unordentlichen Buechern. Nicht im Bild: Hinter ihrem Ruecken haelt die Dame einen Knochen! Alles aus Schnee geformt und ca. 4 bis 5 Meter gross!

An den Essstaenden entschied ich mich fuer eine kanadische Spezialitaet, die stereotypischer nicht sein koennte. Ich ass maple toffee, also Ahorn Toffee. Das stellt man her, indem man Ahornsirup auf eine bestimmte Temperatur erhitzt und dann auf ein Holzstaebchen in den Schnee giesst. Fertig ist der Ahornsirup Toffee-Lollipop und das kanadische Grinsen gibt es gleich mit dazu.

Nach einem kurzen Abstecher ins geheizte Festzelt (die militaerische Artillerie-Jazz-Band aus Edmonton spielte mitreissende Stuecke) ging es weiter zu dem Punkt, warum ich unbedigt heute hier her wollte: Um 11 Uhr fand das Flour Packing (Mehlpacken) statt. Um zu Zeiten des Goldrausches nach Kanada einreisen zu koennen, musste jeder einzelne an der kanadischen Grenze vorweisen koennen, dass er genuegend Essen und Ausruestung bei sich fuehrt, um mindestens ein Jahr ueberleben zu koennen.

Die Northern Pacific Railroad Company veroeffentlichte folgende Ausruestungsliste fuer Goldsucher, die in den Norden aufbrechen, im Jahr 1897 :

  • 150 Pfund Speck
  • 400 Pfund Mehl
  • 25 Pfund Haferflocken
  • 125 Pfund Bohnen
  • 10 Pfund Tee
  • 10 Pfund Kaffee
  • 25 Pfund Zucker
  • 25 Pfund getrocknete Kartoffeln
  • 2 Pfund getrocknete Zwiebeln
  • 15 Pfund Salz
  • 1 Pfund Pfeffer
  • 75 Pfund getrocknete Fruechte
  • 8 Pfund Backpulver
  • 2 Pfund Backnatron
  • 1/2 Pfund Essigessenz
  • 12 Unzen Bruehe
  • 1 Dose Senf
  • 1 Dose Streichhoelzer (fuer vier Mann)
  • 1 Holzofen (fuer vier Mann)
  • Goldwaschpfanne
  • Ein Satz hochbeanspruchbare Eimer
  • Ein grosser Eimer
  • Messer, Gabel, Loeffel, Tasse und Teller
  • Bratpfanne
  • Tee- und Kaffekanne
  • Schleifstein
  • 2 Spitzhacken und eine Schaufel
  • Saege
  • Gurte
  • 2 Aexte und ein Reservegriff (fuer vier Mann)
  • 6 Feilen (8 Zoll lang) und 2 Spitzfeilen (fuer die Gruppe)
  • Abziehmesser, Bohrwinde, Kurzraubank und Hammer (fuer die Gruppe)
  • 200 Fuss langes Seil (drei Achtel Zoll dick)
  • 8 Pfund Pech und 5 Pfung Werg (fuer vier Mann)
  • Naegel, jeweils 5 Pfund der Groessen 6, 8, 10 und 12 Penny (fuer vier Mann)
  • Zelt, 10 x 12 Fuss gross (fuer 4 Mann)
  • Grober Leinenstoff zum Einpacken
  • 2 Wachstuecher fuer jedes Boot
  • 5 Yards Moskitonetz
  • 3 Paar warme Unterwaesche
  • Schwerer Wollmantel
  • 2 Paar schwere Wollhosen
  • Schwerer Gummimantel
  • 1 Dutzend schwere Wollsocken
  • 6 schwere Wollfaeustlinge
  • 2 schwere Pullover
  • 2 Paar schwere, reissfeste Gummistiefel
  • 2 Paar Schuhe
  • 4 Decken (fuer zwei Mann)
  • 4 Handtuecher
  • 2 Overalls
  • 1 Satz Oeltuchkleidung
  • Einige Satz Sommerkleidung
  • Kleine Auswahl Medikamente

Dabei kommt man fuer eine Person locker auf das Gewicht einer Tonne notwendiger Ausruestung, die man an der kanadischen Grenze vorzeigen muss. Zuerst musste diese Ausruestung aber ueber Bergpaesse viele Kilometer auf dem Ruecken getragen werden, wollte man ueber die kuerzeste Route, den Chilkoot Trail einreisen. Einige First Nations standen bereit, beim Tragen zu helfen, allerdings liessen sie sich das entsprechend bezahlen. Meist mussten die Goldlustigen unzaehlige Male hin- und zuruecklaufen, um wirklich alles ueber die Bergpaesse transportiert zu haben.

Das Flour Packing erinnert an diese wahnsinnigen Unternehmungen jedes einzelnen, den das Goldfieber gepackt hat. Ich habe den ersten Teilnehmern zugejubelt, gestartet wurde mit den Frauen. Dabei war das Qualifizierungsgewicht 343 Pfund (= 156 Kilogramm), dass in Form von Packrahmen und Mehlsaecken 50 Fuss weit (= 15 Meter) getragen werden musste.

In frueheren Jahren sind die Teilnehmer einfach zusammengebrochen, wenn sie nicht mehr konnten. Heute wurde ein portabler Rahmen gebaut, der mit den Teilnehmern mittfaehrt und die Last mit einem Sicherungskabel auffaengt, sollten sie es nicht mehr halten koennen.

Nach einigen Teilnehmern wurde meinen Begleitern zu kalt und wir machten uns weiter auf Entdeckungstour. Das Internet verraet aber, dass der Langzeitrekord bei Frauen im Mehlsacktragen 664 Pfund (= 301 kg) und bei Maennern bei 1002 Pfund (= 454 kg) liegt. Mir hat sich schon beim Zusehen das Kreuzdarmbein verklemmt.

Weiter ging es zum Ein-Hund-Lastschlitten-Ziehen. Der Hund wird an einen mit Gewichten beschwerten Schlitten geschirrt und wird dann vom Herrchen 60 Sekunden lang ermuntert, zu ihm samt Schlitten ueber die Ziellinie zu laufen. Den meisten Hunden sah man an, dass sie beim Training wohl kein Publikum und Jubelstuerme gewohnt waren. Sie blieben einfach sitzen oder bellten ein wenig und wussten nicht mehr so recht, was sie tun sollten. Nach 60 Sekunden zogen dann Helfer den Schlitten samt Hund zum Herrchen, um das Erlebnis fuer den Hund trotzdem erfolgreich zu machen.

Doch eine schwarze Mischlingshuendin mit 60 Pfund (= 27 kg) Lebensgewicht hatte so viel Vertrauen zu Herrchen und Spass am Schlittenziehen, dass sie schwanzwedelnd ganze 280 Pfund (= 127 kg ) zu ihm zog! So viel schaffte noch nicht mal der bullige Malamut mit 94 Pfund Koerpergewicht (= 43 kg) nach ihr. Da sieht man, wie entscheidend das Training und die Motivation des Hundes ist.

Die ganze Woche war mit Wettbewerben wie Axtwerfen, Wettheulen mit Hund, Wettsaegen, Kostuembaellen und weiteren Aktionen gesaeumt. Doch uns war es fuer den Tag genug und fuhren zurueck ins warme Haus um einige Runden Karten zu spielen und zu quatschen.