Wie schon letztes Jahr um diese Zeit, ein Einschub aus aktuellem Anlass. Wer gerade nicht über Krankheit, Sterben und Tod lesen mag, der möge an dieser Stelle aufhören.
Mein Freund Marc ist tot.
Nach seiner Diagnose 2018 ging es erst bergab und ab Februar 2019 wundersamerweise bergauf. Alle zwei bis drei Wochen haben wir uns getroffen, zur Kuchentherapie. Ich brachte einen Kuchen, wir aßen und redeten. Über die Krankheit, den Ausblick, die Arbeit, die Sorgen, die Freuden. Die Diskussionen wurden zunehmend theoretischer und spiritueller, was ich begrüßte.
Im Frühling war Marc stark und glücklich. Motorisch war er nicht komplett wiederhergestellt, aber es war gut genug – er konnte radfahren, gehen und sogar klettern.
Den Sommer nutzte er mit seiner Partnerin und ihren vier kleinen Kindern. Sie reisten ein paar Monate durchs Land, besuchten Freunde und Familie, schmiedeten Pläne. Marc wollte nicht wieder zurück in seinen alten Beruf. Irgendetwas hat wohl dazu beigetragen, dass er so krank geworden ist. Und das möchte er nicht wieder in sein Leben lassen. Gerne würde er auf seine Kinder aufpassen während seine Partnerin wieder mehr arbeitet.
Ein paar Tage bevor es wieder nach Hause ging von der großen Reise, kamen die Schmerzen zurück.
Heftig. Tumore drücken auf die Nervenbahnen, die aus der Wirbelsäule hervortreten. Tumore drücken auf das Rückenmark und paralysieren ihn.
Marcs Partnerin ist Krankenschwester und pflegt ihn zu Hause. Doch das funktioniert nicht richtig, denn die vier Kinder sowie der Haushalt brauchen ihre Aufmerksamkeit und Marc braucht mittlerweile Betreuung rund um die Uhr.
Als entscheidet sich Marc, ins Krankenhaus zu gehen.
Im Krankenhaus werden die Schmerzen groesser.
Die Laehmungen nehmen zu.
Erst sitzt Marc im Rollstuhl.
Dann kommen Taubheitsgefuehle in den Haenden hinzu.
Die schon unertraeglichen Schmerzen ueberwaeltigen ihn komplett und er bekommt Morphium, Methadon, Lyrica.
Trotzdem hilft nichts.
Als ich Marc auf einer Palliativstation in einem neuen Gesundheitszentrum besuche, kann er die Haende nicht mehr bewegen, nur noch die Arma. Und Atmen geht auch nur noch flach.
Trotzdem lachen wir viel, das haben wir immer schon gemacht. Und essen Kuchen. Ich soll bald wieder kommen. Natuerlich mache ich das!
Ich besuche Marc zu Hause. Ein Transfer von Spezialbett zu Spezialrollstuhl zu Spezialbett dauert lange und ist sehr schmerzhaft. Doch zu Hause, umgeben von seinem Bruder mit Familie, seiner Partnerin mit vier Kindern und seiner Mutter, da geht es ihm ganz gut. Niemand meidet oder bemitleidet ihn hier, das Haus ist voller Leben und niemand spricht nur mit gedaempfter Stimme.
Hier teilt er mir mit, dass er sich entschieden hat zu sterben.
In Kanada ist Sterbehilfe erlaubt. Und Marc findet nicht, dass er noch unbedingt darauf warten muss, langsam zu ersticken. Jedenfalls soll ihm seine Familie nicht beim Ersticken zusehen muessen. Es ist Dienstag. Freitag Nachmittag waere doch ein guter Tag zum Sterben. So um 5. Ob er die Infusion oder den toedlichen Schluck nehmen sollte? Wenn, dann wuerde er gern selbst ausfuehrend sein, also das Getraenk. Aber damit kann es wohl ein paar Stunden dauern, bis der Tod eintritt. Ob seine Familie und seine Freunde so lange warten wollen?
Ausserdem soll das Getraenk scheusslich schmecken. Und er liebt doch gutes Essen… Dann wuerde er lieber mit einem guten Geschmack im Mund sterben.
Technisch-neutral diskutieren wir die Umstaende seines geplanten Todes. Nur die oertliche Sterbehilfe-Aerztin konnte noch nicht erreicht werden. Hoffentlich hat die Freitag um 5 noch nichts vor.
Ich fahre wieder auf die Arbeit. Der Tag geht langsam rum, wie die restlichen Arbeitstage dieser Woche. Tagsueber klopft mein Herz bis zum Hals und ich kann nicht glauben, wie surreal alles ist.
Nach der Arbeit fahre ich auf den Parkplatz vor Walmart und heule in meinem Kombi. Hier stoert es niemanden. Im Anschluss gehe ich derangiert bei Walmart einkaufen. Auch hier fuehle ich mich als Teil der Gruppe.
Nur Freitag, Freitag fahre ich von der Arbeit aus zum Gesundheitszentrum. Da gibt es einen schoenen Indianer-Heilungsraum. Und da will Marc sterben.
Alle Arbeitskollegen, die mit Marc jahrzehntelang zusammen gearbeitet haben, wollen nicht dabei sein. Sie wissen nicht, ob sie das packen.
Komisch, das weiss ich auch nicht. Aber die Frage hab ich mir nie gestellt, ob ich das packen werde. Ich weiss, dass mein lieber Freund Marc stirbt und sich dabei gute Gesellschaft wuenscht. Also bin ich da. Der Rest interessiert mich herzlich wenig.
Freitag morgens faellt mir auf, dass es kein Bild gibt von Marc und mir. Ich frage seinen langjaehrigen Bueronachbarn, ob es zu pietaetslos ist, ihm auf dem buchstaeblichen Sterbebett nach einem Selfie zu fragen.
„Ich glaube, ihm wuerde die Merkwuerdigkeit gefallen.“
„Aha! Das ist also der Grund, warum er gut mit mir befreundet ist!“
Im Heilungsraum bin ich die Erste.
Es ist warm, hell und ein kleiner elektrischer Wasserfall plaetschert ueber eine Schieferplatte an der Wand. Hier werde ich ganz ruhig und stark. Meiner jetzigen und Marcs ehemaliger Mitarbeiterin schicke ich ein paar Impressionen per MMS. Sie wohnt in Quebec und kann nicht dabei sein.

Der Raum ist rund man fuehlt sich als sei man in einem hoelzernen, riesigen Tipi. In der Mitte thront eine riesige Rauchabzugshaube. Das Dach um die Abzugshaube besteht aus Fenstern und einer strahlenfoermigen Holztraegerkonstruktion.
Irgendwann kommt auch Marcs Bruder in den Raum. Er baut seinen Computer auf mit Lautsprechern. Falls Marc seine Lieblingslieder hoeren moechte. Und Fruechte. Falls Marc mit einem suessen Geschmack im Mund sterben moechte.

Alles steht bereit. Lautsprecher, eine Schale Himbeeren, eine Mandarine.
Die Sterbeaerztin kommt hinein und spricht ein wenig mit Marcs Bruder und mir. Und eine andere Angestellte klaert uns ueber den Gebrauch der Feuerstelle samt Abzugshaube auf.
Schliesslich entzuendet sie das Feuer und verlaesst den Raum.

Ein echtes Holzfeuer brennt in der Mitte des Raumes. Das Mosaik auf dem Boden symbolisiert die vier Himmelsrichtungen der Indianer. Von Norden im Uhrzeigersinn: Weiss, Gelb, Rot, Schwarz.
Und der Raum fuellt sich auch mit Familie und Freunden, lieben Nachbarn und vielen Kindern.
Das Licht wird gedimmt. Da hoere ich Marcs Tochter schon von Weitem laut weinen. Marc faehrt auf seinem elektrischen Rollstuhl in den runden Raum, gefolgt von Partnerin und Kindern.
Er faehrt eine Runde im Uhrzeigersinn. Eine Runde voller letzter Umarmungen, Kuesse, Worte und guter Wuensche.
Ich sage einfach „Danke fuer alles!“ Marc findet, dass das eine gute Zusammenfassung ist, aber auch er mir fuer alles dankt.
Dann frage ich ob es zu spaet fuer ein gemeinsames Foto ist, aber anscheinend habe ich Glueck.

Ein erstes und letztes Bild von Marc und mir.
Wir verabschieden uns mit „Alles Gute und man sieht sich!“.
Nachdem die Abschiedsrunde vollendet ist, spricht Marc mit klarer, ruhiger Stimme auf Franzoesisch. Ein paar Worte verstehe ich, aber den Zusammenhang nicht. Zum Glueck sagt er noch etwas auf Englisch. Was fuer ein tolles Leben er hatte, und dass er bis in den Tod von so vielen Menschen mit so viel Liebe begleitet wird. Dass er gluecklich ist und glaubt, dass der Tod nicht das Ende ist.
Dann spricht Marc noch einmal auf Franzoesisch. Dieses Mal folgt kein Englischer Teil. Stattdessen faengt die Frau neben mir an, leise Gitarre zu spielen und Mantras zu singen (oh Shanti Shanti aveo, oder so aehnlich). Der Gesang hilft mir sehr, positiv und stark zu bleiben. Marc wird von seinen Kindern, seiner Partnerin und seinem Bruder beschmust und alle singen.
Irgendwann hoert die Musik auf und Marcs Partnerin spricht. Alle, die nicht dabei sein wollen, wenn Marc stirbt, koennen jetzt den Raum verlassen. Etliche Kinder und ein paar Erwachsene gehen zum Spielen in den Nebenraum. Aber fuenf Kinder bleiben, davon die beiden aelteren Kinder von Marc.
Die Mantras werden wieder gesungen. Anscheinend wird auf Obst sowie Musik vom Laptop verzichtet, denn die Aerztin ist schon im Raum, zusammen mit ca. fuenf Pflegern. Die Aerztin hat einen kleinen Eimer mit ca. sechs Spritzen bei sich. In Marcs Hand befindet sich schon die Kanuele.
Ich kann nicht sehen, wann die Aerztin spritzt, sie hockt mit dem Ruecken zu mir gewandt. Aber ich sehe, dass Marc gaehnt. Und kurze Zeit spaeter muessen seine Lieben schon seinen Kopf stuetzen, damit er nicht auf seine Brust faellt.
Irgendwann erlaube ich auch mir, zu weinen.
Marc ist tot.
Ich umarme seine Partnerin und frage sie, ob sie glaubt, dass Marc noch irgendwo im Raum ist. Aber sie meint, dass er sofort durch die Fenster in der Decke nach oben entwichen ist. Er war so sehr bereit zu sterben, da war kein Grund fuer ihn zu bleiben.
Ein bisschen bleibe ich noch bei Marcs totem Koerper und streichle seine Knie. Doch er ist wirklich sehr tot. Also ziehe ich mich in mein Auto zurueck.
Dieses Mal weine ich auf dem Parkplatz des Gesundheitszentrums. Dann informiere ich per SMS interessierte Arbeitskollegen. Und ich rufe Tyrel an, um ihm zu sagen, dass ich mich trotz allem fahrtuechtig fuehle. Ob er etwas vom Supermarkt moechte (Ja, Aepfel!).
Zu den Aepfeln gesellen sich Tiefkuehlpizzas und Ben und Jerry’s Eis. Heute gebe ich allen Geluesten nach.
Und trotz der Trauer bin ich so froh und dankbar. Dass ich Marc begleiten durfte durch all das Hoffen und Bangen bis zum Ende. Dass er so viel seiner kostbaren Zeit mit mir geteilt hat. Dass ich durch sein Leiden und seinen Tod neue Seiten an mir und meinem Leben entdecken konnte.
Ganz einfach: Danke fuer alles! 🙂